Prora Winterschlacht

Prora – Winterschlacht im Norden

Vom November 1977 bis April 1979 diente ich im 29. Mot.-Schützen Regiment „Ernst-Moritz-Arndt“ in Prora auf der Insel Rügen. Ich war damals 20 Jahre alt, als Silvester 1978 die Katastrophe begann. Tagtäglich wurden wir gedrillt dem Klassenfeinde Paroli zu bieten. Das eines Tages ein ganz anderer Feind unser ach so idyllisches Soldatenleben durcheinanderwirbelte, hatte wohl am 31.12.1978 niemand erahnt. Schon am Vormittag regnete es sehr stark bei stürmischen Winden und einigen Plusgraden. Als ich gegen 17.00 Uhr meinen Dienst am KDL ( Kontrolldurchlass ) auf deutsch Haupteingang begann, schneite es schon sehr heftig und es kühlte sich immer mehr ab. Der Wind nahm an Stärke zu, so dass die Wege und Straßen innerhalb der Kaserne zu wehten. Gegen Mitternacht konnte man bequem auf das ca. 5m hohe Dach der Wachstube klettern und herunterrutschen. Es wurde immer kälter und man hörte schon von einigen Kraftfahrern, dass einige Straßen unpassierbar wären. Als ich am 01.01. 1979 gegen 17.00 Uhr meinen Dienst beendete, war die Insel Rügen schon fast zugeschneit. In der Nacht zum 02.01. wurde unsere Kompanie in einen Zug gesetzt und ab ging es irgendwohin. Als der Zug hielt, befanden wir uns auf freier Strecke und man teilte uns mit, dass die Gleise vom Schnee geräumt werden müssen. Schaufeln sie einmal bei Schneesturm Schnee. So wie der Schnee auf der Schaufel lag, blies der Wind das weiße Pulver wieder weg. Nach einigen Stunden sah auch die Führung die Sinnlosigkeit ein und es ging zurück nach Prora. Später erfuhren wir dann von offizieller Seite, dass die Insel von der Außenwelt abgeschnitten sei. Das bedeutete für uns, keine Post von zu Hause, kein Nachschub an Verpflegung und sonstigen Dingen. Panzer unseres Regimentes waren pausenlos im Einsatz um Kranken, Schwangeren und liegengebliebenen Fahrzeuginsassen zu helfen. Nach Einbruch der Kälte froren die Wasserleitungen ein. Man konnte nicht mehr heizen und der Strom fiel ständig aus. Unsere Notdurft mussten wir im Fernsehraum verrichten –auf Eimern. Viele Fenster wurden zugenagelt, da die Kälte unerträglich wurde. Der normale Soldatendienst war aufgehoben. Dann, als sich der Sturm etwas gelegt hatte ging das große Schneeräumen los. Mit Schaufeln rückten wir der weißen Pracht an den Kragen. In Viehwaggons wurden ca. 30 Mann verladen und dann ging es mit dem Zug los. Irgendwo zwischen Bergen und Saßnitz haben wir Schneisen geschaufelt damit die Züge durchpassten. In 6 Etagen wurde der Schnee nach oben geschaufelt und als der Zug dann vorbeifuhr, konnten wir ganz oben auf dem Schnee stehen und der Lok aufs Dach schauen. 16 Stunden dauerte der Arbeitseinsatz und dann völlig entkräftet ging es zurück in die Kaserne. Die Lebensmittel wurden knapp. Als Tagesration bekamen wir ein Paket Knäckebrot und eine Scheibe Salami ca. 5 cm dick. Diese Ration könne man noch 3 Tage austeilen, dann gibt es nichts mehr, wurde uns gesagt. Da viele noch Reserven hatten von den Weihnachtspaketen von zu Hause, konnte man diesen Engpass etwas besser überstehen. Zu Trinken gab es nur dünnen Tee, wenn Strom war um welchen zu kochen. Alles hing davon ab wie schnell können wir uns nach Bergen durchkämpfen. Es musste unbedingt die Fernverkehrsstraße nach Bergen passierbar gemacht werden. In dieser Zeit erlebte ich eine totale Wandlung der zwischenmenschlichen Beziehungen. Es gab plötzlich keine Vorgesetzten mehr. Es gab keine erniedrigenden Befehle oder hysterisch schreiende Offiziere die einem das Leben als Soldat so schwer machen konnten mehr. Die Kameradschaft trat in den Vordergrund .die restlichen Lebensmittel wurden aufgeteilt, der Umgangston wurde humaner, denn wir wussten, dass hier kein utopischer Klassenfeind am Werke war, sonder schlicht und einfach die Natur. Und da halfen keine Kalaschnikows. Auch fanden sich viele Zivilisten die uns bei den Einsätzen mit Essen und Trinken unterstützen. In Prora waren so etwa 6000 – 7000 Soldaten, Unteroffiziere, Offiziere und Zivilangestellte stationiert und die mussten verpflegt werden. Nun ging der Kampf los. Mit Panzern, LKW’s und anderem Gerät rückten wir dem Schnee zu Leibe. Ich weiß nicht mehr wie lange wir uns nach Bergen durchgeschlagen haben, aber ich glaube am 8. Januar hatten wir es geschafft. Die Straße von Bergen bis nach Stralsund war wohl auch wieder befahrbar und damit gab es in Bergen reichlich zu essen. Wir waren damals in verschiedenen Gaststätten und Tanzsälen untergebracht und stärkten uns erst mal so richtig. Der absolute Höhepunkt war der, dass es für alle Bier Wein, Schnaps und Sekt zu trinken gab. Kostenlos wohlgemerkt! Man muss dazu sagen, das bei der NVA ansonsten striktes Alkoholverbot herrschte. Alkoholdelikte wurden zum Teil mit Arrest bestraft. Auf Grund der großen Kälte ist der Bodden zugefroren. Eisschollen türmten sich empor und das Meer sah aus wie am Nordpol. Da von Saßnitz die Fähre nach Trelleborg dann wieder fuhr, hatte man wohl Angst, das hier ein Schlupfloch entstanden wäre, um an die große Freiheit zu gelangen. Realistisch gesehen war aber dies viel zu gefährlich. Trotzdem musste nun am Strand von Prora Wache geschoben werden. Bei großer Kälte und Wind wurden wir aller 30 min abgelöst. Ein normaler Wachdienstrhythmus bestand aus 4 Stunden Wache, 4 Stunden Ruhezeit, 4 Stunden Bereitschaft. Bei einem Ablösungstakt von 30 min und einer Gesamtdienstzeit von 24 Stunden kam man da absolut nicht zur Ruhe. Hier spürte man wieder die Sinnlosigkeit des NVA-Dienstes. Nachdem die Straßen und Schienen wieder befahrbar waren, erhielten wir eine Urkunde und 1 bis 3 Tage Sonderurlaub. Sonderurlaub wurde bei der NVA nur sehr selten vergeben. Es mussten schon außergewöhnliche Leistungen vollbracht werden, um mal außer der Reihe nach Hause fahren zu dürfen. Es sei gesagt, dass dem Soldaten im halben Jahr ein Wochenende und eine Woche Urlaub zu standen. Insgesamt bekamen wir für 18 Monate Grundwehrdienst 18 Urlaubstage. Diese Katastrophe nimmt in meinem Leben einen hohen Stellenwert ein, denn sie zeigte ganz deutlich, dass die Natur letztendlich stärker ist als die Zivilisation . Der Mensch mit seinen technischen Fortschritt ist machtlos gegen Naturgewalten.

Volker Schölzel  vgl: Permalink

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