Ein Grundwehrdienstleistender (

Ein Grundwehrdienstleistender („Rosi“) berichtet über seine Zeit im Seelandebataillon 1977/78

Ich öffne den Briefkasten.
„Nanu, Post für mich, Einberufungsbefehl“. Überraschend kam er nicht, denn ich war ja schon beim Wehrkreiskommando vorstellig gewesen. Meine Dienstzeit war vom 03.05.1977 bis zum 25.10.1978 in Prora.
Ohne mir groß einen Kopf zu machen, spazierte ich durchs Kasernentor und wurde schon erwartet, so wie viele andere Jungs, von gewissen Unteroffizieren. Plötzlich stand ich vor einem riesigen Gebäudekomplex und ich fühlte mich sehr klein. Mir war so, als ob ich durch den Schlund eines Riesenkraken ging. So verschwand ich irgendwo im Gebäude. Es war wirklich riesig. Ich hatte so etwas noch nie gesehen.
Ich wurde eingeteilt zur ersten Motschützenkompanie. Ca. 100 Kameraden waren wir, alles
Neuzugänge, also „Spritzer“.
„Spritzer“ bedeutet erstes Halbjahr, „Vitze“ zweites Halbjahr, „EK“ (Entlassungskandidat) drittes Halbjahr.
Die Grundausbildung des ersten Halbjahres war sehr hart. Dort lernten wir alles, was notwendig war, um als guter Soldat zu bestehen. Sportliche Ertüchtigung, Sturmbahn, Schutzausrüstung, Schießen, Fahrausbildung usw.
Der Höhepunkt war jedoch die SPW- Ausbildung für mich. SPW heißt wohl Schwimmpanzer- oder Schützenpanzerwagen. So nahm ich an verschiedenen Übungen teil wie Seelandung, sowie Raketenschnellboote im Angriff usw. Wir stürmten ein menschenleeres Dorf irgendwo an der Küste. Das war natürlich ein Abenteuer für mich 20-jährigen.
Am Anfang der Dienstzeit war ich sehr traurig und ich hatte einen Weinkrampf gehabt. Ich fühlte mich mies, denn ich hatte meine Freiheit verloren, war eingezäunt und musste Befehle ausführen. Meine Meinung war nicht gefragt. Ein Kamerad hat auf mich eingeredet und mir Mut gemacht. Ich nahm mir vor, alles ein bisschen cooler zu nehmen, also mich mit der Situation zu arrangieren.
Die Zeit verging und ich wurde „Vize“. Dies bedeutet, dass unsere Kompanie aufgelöst wurde. Wir wurden auseinandergerissen, verteilt in den vielen Eingängen des Riesenobjektes.
Ich hatte großes Glück, denn ich wurde abkommandiert zum Nachrichtenzug/Stab des Seelandungsbataillon. Ca. 10 Kameraden waren wir und hatten keine unmittelbaren Vorgesetzten. Unser Vorgesetzter war der Bataillonskommandeur sowie Stabsoffiziere. Untergebacht waren wir in den letzen beiden Zimmern des langen Flures.
Jetzt war meine Aufgabe, die Stabs- bzw. Führungsfahrzeuge zu pflegen und zu warten und auf dem Fahrzeugparkplatz UvD zu schieben. Durch diese neue Aufgabe hatte ich jetzt nur noch mit Führungsoffizieren zu tun. Ich hatte plötzlich viele Freiheiten, musste nicht ständig Befehle empfangen usw.
Auf dem Parkplatz lernte ich R., einen Unteroffizier kennen. Er wohnte auf demselben langen Flur wie ich, bloß auf der anderen Seite. Jetzt begegneten wir uns öfters.
Eines Abends lud er mich in seine Stube ein. Wir quatschten über dies und jenes und zu später Stunde ist es passiert.
Wir landeten in seinem Bett und hatten Sex. Der Sex war wie ein Tanz auf dem Vulkan, so heftig und stürmisch, als ob es das letzte Mal sein sollte. War es aber nicht. Ein Jahr lang bis zu meiner Entlassung waren wir jeden Sonnabend zusammen und hatten wilden Sex.
R. war verheiratet und Vater eines Kindes, aber daran dachten wir nicht. Wir wollten nur Sex. Es war Sex ohne Liebe, nur Befriedigung. Aber die körperliche Nähe und Wärme war fantastisch.
Vor der Armee hatte ich ab und zu mal mit Männern Sex gehabt. Aber ich hatte mir vorgenommen, während meiner Armeezeit nichts mit Männern anzufangen.
Nun ist es eben passiert. Natürlich bekamen es einige Soldaten und Unteroffiziere mit, dass ich und R. ein Verhältnis hatten. Plötzlich sprachen mich Kameraden an, mit Ihnen auf die Toilette zu gehen, was ich natürlich machte. Nun hatte ich auf der Toilette öfters männliche Bekanntschaften. Aber es machte mir Spaß und den Kameraden auch. Es sprach sich rum und ich konnte mich kaum noch retten. Zu 90% hatten alle eine Freundin oder Frau zu Hause. Das war neu für mich. Auf alle Fälle habe ich es nicht bereut.
Natürlich haben die Offiziere Wind davon bekommen und gaben mir auch schon einen richtigen Kosenamen: Rosi.
Da ich fast täglich auf dem Gefechtsparkplatz war, um meinen Schützenpanzerwagen zu warten, kam es im Fahrzeug mit einigen Kameraden und sowieso auch mit R. zu körperlichen Annäherungen. Man setzte sich auf den Sitz der Bordkanone und vollzog das Liebesspiel. Ich weiß, dies war ein außergewöhnlicher Ort. Leider ging das nicht lange gut, denn 3,4 Monate später nach einer Gefechtsübung explodierte mein Fahrzeug mit Munition auf dem Parkplatz. Zum Glück hatte meine Besatzung kurz vorher das Fahrzeug verlassen und es kam zu keinem Toten bzw. Schwerverletzten. Ich als Fahrer wurde nach dem großen Explosionsknall aus der Luke katapultiert. Das Fahrzeug brannte vollständig aus. Nun musste  ich Bericht-Protokolle schreiben über den letzten Tag an meinem Fahrzeug (was habe ich gemacht, welche Personen waren anwesend usw.).
Am gleichen Tag wurde ich von zwei Herren im Anzug verhört. Zum Glück gab es kein Nachspiel für
mich.
Danach wurde ich nach Stralsund ins Lazarett gebracht, da ich doch erheblich verletzt war. Zwei Wochen später lag ich noch eine Woche im Med-Punkt in Prora. Sogar als ich im Med-Punkt lag hatte ich keine Ruhe vor den Unteroffizieren und Soldaten.
Nach meinem MED-Punkt-Aufenthalt bin ich schnurstracks zum Regimentskommandeur gegangen. Ich bat um Sonderurlaub wegen des Unfalls, den ich überraschend sofort bekam. Sein Sekretär schrieb 5 Tage Sonderurlaub für mich auf, was ich toll fand. Ich hatte einen guten Stand. Von den Offizieren lud man mich ab und an zu Geburtstagsfeiern ein und so durfte ich auch schon mal für die Herren kellnern. Dabei floss viel Alkohol.
Der Geburtstag meines Kompaniechefs war besonders amüsant. Er legte eine Schallplatte mit „Schmidtchen Schleicher mit den elastischen Beinen“ auf und sagte: „So, nun zeig mal Rosi, was Du drauf hast“. Ich musste zu dem Schlager tanzen. Einige untergebene Offiziere und Feldwebel habe ich in den Tanz mit einbezogen. Die waren nicht gerade begeistert, als ich mich, der Soldat, auf deren Schoß setzte und meine Hände durch ihr kurzes Kopfhaar kraulte. Aber wir wollten ja die Geburtstagsfeier unseres Kompaniechefs nicht trüben und sie ließen es geschehen. Auf alle Fälle waren meine künstlerischen Einlagen ein großer Erfolg und der Chef war zufrieden.
So hatte ich mir bis zu meiner Entlassung so manche Freiheiten erwirkt.
Ich wurde nicht ein einziges Mal wegen meines Schwulseins diskriminiert, im Gegenteil, das Verhältnis zwischen mir und den Kameraden und Offizieren war super. So hatte ich im Gegensatz zu vielen anderen ein gutes Leben in der Kaserne – natürlich erst nach der Grundausbildung.
Bedauerlicherweise kam ein Kamerad durch Selbstmord durch den Sprung aus dem 5. Stock ums Leben und ein weiterer wurde schwer verletzt. Ich sah ihn im Lazarett in Stralsund im Rollstuhl wieder.
Durch meinen Kontakt zu den Offizieren bei Manöverfahrten, beim Kellnern oder sonstigen Anlässen konnte ich auch einige Informationen mitbekommen. Da ging es oft auch über Unfälle mit Soldaten oder um Einweisungen in den Knast oder jemand ist nicht aus dem Urlaub oder Ausgang zurück gekommen.
Im ersten Halbjahr war auch ein Kamerad aus unserem Zimmer nicht mehr vom Ausgang zurück gekommen. Am nächsten Tag mussten wir die ganze Umgebung Richtung Binz absuchen. Er war verschwunden, ich habe ihn nie wieder gesehen.
Natürlich könnte man noch viele Episoden erzählen, dann müsste ich ein Buch schreiben.
Ich wollte hiermit nur ausdrücken, dass Armeezeit in der DDR kein Zuckerschlecken war, wie ich es im ersten Halbjahr erfahren und durchlebt habe. Die Ausbildung war sehr hart. Die Situation in der Kaserne für viele, ja für alle, nicht leicht. Vor allem das Eingesperrtsein, wenig Urlaub (ich kam einmal 25 Wochen nicht nach Hause), kaum Ausgang, keine Meinungsfreiheit usw.
Als „Vitze“ und „EK“ hatte ich großes Glück gehabt und es auch ausgenutzt. Aber vielen Kameraden ging es nicht so gut. Dass sich die vielen sexuellen Kontakte der Soldaten und Unteroffiziere zu mir ergeben haben, war für alle von Vorteil. Man konnte mal dem militärischen Stress entgehen und man hatte zumindest ein kurzes Glücksgefühl.

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