Ein Grundwehrdienstleistender

Am 5. Mai 1986 begann die Zeit meines 18-monatigen Wehrdienstes. Ich war damals bereits über 23 Jahre alt. Da ich nach (zum Glück) reiflicher Überlegung eine in jugendlicher Naivität unterschriebene Verpflichtungserklärung zum dreijährigen Dienst in den Reihen der Nationalen Volksarmee (NVA) zurückgezogen hatte, wurde ich mit der Einberufung zum Grundwehrdienst hingehalten. Nicht, dass mich das zuständige Wehrkreiskommando in Grevesmühlen nur ignorierte. Nein, ich wurde nach meiner erfolgten Musterung gleich zwei Mal zur sogenannten Einberufungsüberprüfung vorgeladen, bei denen mir dann immer gesagt wurde, dass ich damit rechnen muss, in den nächsten Monaten zum Dienst "bei der Fahne", wie es damals hieß, befohlen zu werden. Ich habe also jedes Mal innerlich von meinem Zivilleben Abschied nehmen müssen und konnte auch keine Pläne für meine berufliche Weiterentwicklung in Angriff nehmen, da dafür der absolvierte Wehrdienst Voraussetzung war. Gezogen wurde ich dann erst nach der dritten Überprüfung...

Wir frisch eingezogenen Angehörigen der NVA hatten uns entsprechend des Einberufungsbefehls morgens beim "Militärpolitischen Kabinett" des Wehrkreiskommandos Grevesmühlen, in dem übrigens auch die Musterungen stattfanden, einzufinden. Dort nahm uns unser künftiger stellvertretender Hauptfeldwebel (später in alter preußischer Militärtradition bei der NVA "Spieß" genannt) in Empfang. Er erklärte uns, dass wir von nun an seinem Befehl unterliegen. Er würde uns auf dem Weg zu unserer Dienststelle, das Raketenausbildungszentrum 40 (RAZ 40) in Prora auf Rügen begleiten. Dieser führte uns zunächst mit dem regulären Zug der Deutschen Reichsbahn nach Bad Kleinen. Dort stiegen wir in einen von Dresden kommenden sehr langen Sonderzug ein. Im Gespräch mit den dort bereits sehr zahlreich vorhandenen Fahrgästen wurde uns klar, dass das einzige Ziel dieses Transportes Prora war. Die anderen waren wohl fast ausnahmslos angehende Unteroffiziers- oder Fähnrichschüler der Militärtechnischen Schule (MTS), welche sich auch in Prora befand. Das bedeutete, sie hatten sich zu drei bzw. zehn Jahren Dienst bei der NVA verpflichtet.

Die Stimmung im Zug war doch sehr gedämpft. Einige versuchten sich mit hereingeschmuggeltem Alkohol ein wenig Mut anzutrinken. Ich nicht, denn unsere Begleitung hatte uns unmissverständlich belehrt, dass jeglicher Verstoß gegen das Alkoholverbot bei der NVA durch ihn hart geahndet werden würde. Ich wollte es auf keinen Fall darauf ankommen lassen und schon am ersten Tag unangenehm auffallen.
Nach einigen Stunden Fahrt und Aufenthalten zum Zustieg von weiteren Einberufenen kamen wir endlich in Prora an. Der Zug hielt im Bahnhof Prora-Nord. Wir wurden durch ein großes Tor in das Militärgelände geführt. Dort sahen wir zum ersten Mal die gewaltige kilometerlange angsteinflößende Kasernenanlage. Das RAZ 40 lag so ziemlich in der Mitte des Komplexes der MTS und war eine eigenständige Einheit. Dort wurden die Besatzungen für die taktischen und operativ-taktischen Raketentruppen der NVA ausgebildet, also zum Beispiel für die nach NATO-Bezeichnung so genannten SS 20 . Wir als Grundwehrdienstleistende waren dazu auserkoren, den Ausbildungsbetrieb durch Hilfs- und Wartungstätigkeiten zu unterstützen.


Nach der etwa 4-wöchigen Grundausbildung wurde ich einem Instandsetzungszug zugeteilt und als Ersatz für den zuvor entlassenen Batterieladewart eingesetzt. Ich hatte dort meine eigene kleine Werkstatt und war eigentlich den Umständen entsprechend ganz zufrieden, wie es mich getroffen hatte.
Während für mich nach vier Wochen die Grundausbildung beendet war, konnte ich beobachten, wie die Unteroffiziers-und Fähnrichschüler, deren Ausbildung Monate dauerte, geschliffen wurden und musste daran denken, dass ich womöglich auch an deren Stelle hätte sein können. Ich war jetzt doch froh, diesem Schicksal entronnen zu sein. Ich möchte nicht sagen, dass es für mich ein Zuckerschlecken
war, aber im Gegensatz zu den Schülern hatten wir es einigermaßen gut. Als glückliche Fügung erwies es sich, dass im RAZ 40 unter den Soldaten etliche aus meinem Heimatkreis waren. Dadurch war das Heimweh nicht gar so schlimm und es entwickelte sich eine gute Kameradschaft.

Es sollte sich herausstellen, dass mein erstes Halbjahr im RAZ 40 auch das letzte im Bestehen dieser Einheit als eigenständige Truppe war. Es wurde durch eine Organisationsänderung der MTS eingegliedert, als sog. Fachrichtung VIII.
Ich wurde in diesem Zuge in die Fachrichtung V (Kfz.-Technik), 14. Kompanie Sicherstellung Ausbildung der MTS versetzt. Also musste ich mein Bündel aus einer Zeltplane mit meinen Sachen schnüren und einige Treppenhäuser weiter Richtung Binz ziehen. Nunmehr hatte ich nicht mehr die roten Schulterstücke, sondern schwarze.
Ich bekam ein Zimmer mit fünf Doppelstockbetten in einer obersten Etage zugewiesen. Der Blick auf die Ostsee von dort oben war zwar wunderschön, aber in dieser Kompanie herrschten unter den Soldaten ziemlich raue Sitten. Die noch für einige Wochen anwesenden EK's (Entlassungskandidaten) haben regelmäßige Sauforgien veranstaltet. Der eine oder andere Kamerad lief am darauffolgenden Morgen mit blauem Auge durch die Kompanie.
Nachdem die EK's uns verlassen hatten, kehrten langsam zivilisiertere Umgangsformen ein.

Ich wurde wegen meiner Schreibmaschinenkenntnisse (meine Mutter hatte eine alte Erika- Schreibmaschine, auf der ich schon als Kind aus Spaß geübt habe) dem Schirrmeister als Schreiber zugewiesen. Diese Kompanie hatte unter anderem die Fahrausbildung zu gewährleisten. Daher hatten wir ungefähr 75 Kraftfahrzeuge vom W 50 bis zum Tatra 813 im Bestand. Der Schirrmeister war verantwortlich für den Einsatz und die Wartung dieser Technik. Er war ein ganz verträglicher Typ, der, was eigentlich nach meiner Erfahrung dort ganz ungewöhnlich war, nicht dem Alkohol zugesprochen hatte, sondern ziemlich extrem dem Kaffee.
Also war jetzt meine Arbeit, die Einsatzplanung für die Fahrzeuge zu erstellen, Fahrtenbücher auszustellen, Statistiken anzufertigen und zu schönen (mit den vorgegebenen 78 l/100 km Benzin Normverbrauch für die URAL-Lkw kamen wir regelmäßig nicht aus) und sehr viel Kaffee kochen...
Eines Tages musste ich mich bei einem Oberstleutnant G. melden. Dieser erklärte mir, dass er mich künftig für besondere Schreibaufgaben, vorwiegend an den Wochenenden, heranziehen würde. Was das für Aufgaben waren, sollte ich auch bald erfahren.


Mein Kumpel Axel W. und ich wollten an einem Samstagabend zu befreundeten Soldaten in eine andere Kompanie. Es gab dort etwas zu feiern, wohl ein Geburtstag oder die überstandene Woche oder etwas in der Art, und wir waren eingeladen.
Auf dem Weg dorthin kam uns besagter Oberstleutnant G. entgegen. Nach der üblichen militärischen Ehrenbezeigung fragte er mich, wohin des Wegs. Ich sagte, wir wollen in die Sporthalle, um dort noch etwas für unsere sportliche Ertüchtigung zu tun. Er antwortete mit einem Grinsen auf dem Gesicht, unseren „Sport" kenne er. Ich solle es aber nicht übertreiben, da er mich vielleicht noch benötigen würde.
Ich war gewarnt. Der üblicherweise reichlich fließende Alkohol fiel also an diesem Abend aus Sicherheitsgründen aus.
Ich wurde dann auch noch am selben Abend zu ihm gerufen. Er eröffnete mir, dass es einen Selbsttötungsversuch in einer Schülerkompanie gegeben habe. Er sei der Untersuchungsoffizier für solche Fälle. Auf meine Frage, ob denn die Polizei hinzugezogen würde, bekam ich zur Antwort, das liegt in der alleinigen Zuständigkeit der NVA.
Da am Wochenende keine Schreibkräfte im Stab vorhanden seien, und der Befehl bestünde, bei solcherlei Vorkommnissen bis zum darauf folgenden Montag dem Kommandeur, Generalmajor Dörnbrack, schriftlich Bericht zu erstatten, müsste ich mich an die Schreibmaschine setzen und den von ihm vorbereiteten Bericht schreiben.
Ich erinnere, dass zu diesem Bericht u.a. der Abschiedsbrief und die Zeugenaussagen gehörten. Die Tötungsmethode war, wie ich übrigens später noch des öfteren erfahren musste, ein Sprung aus einem der oberen Etagen der Kaserne. Es wurde ein Tisch an das geöffnete Fenster gestellt und sich dann mit Anlauf aus dem geöffneten Fenster gestürzt.

Ich wurde dann noch öfters für diese mich nervlich ganz schön strapazierende Spezialaufgabe herangezogen. Meist ereigneten sich solche Sachen ja an den Wochenenden, wenn die in der Regel sehr jungen Leute mal zum Nachdenken kamen. Ursachen waren meist der enorme psychische Druck, hervorgerufen durch den militärischen Drill, persönliche Probleme (z.B. mit der Freundin) und die damit im Zusammenhang stehende nicht vorhandene Chance, die Probleme zu Hause regeln zu können. Die Leute waren ja in der Regel eingesperrt.

Ich habe meinen Wehrdienst dann am 31. Oktober 1987 als Gefreiter beendet.
Ich glaube, in der Erinnerung verklärt sich sicherlich vieles. Ich habe unter den Soldaten, aber auch unter den Unteroffizieren, Fähnrichen und Offizieren die besten Kameraden aber auch die größten Arschlöcher kennengelernt.
Schlimm war es, zu erleben, wie viele junge Menschen gebrochen wurden. Sehr schlimm war es, und daran habe ich noch heute zu „beißen“, miterleben zu haben, wie junge Menschen, begünstigt durch das „System NVA", unnötig ihr Leben verloren.
Es war immerhin kein Krieg und wir lebten, wie man uns immer wieder einzureden versuchte, in der friedliebenden DDR...

Das Kapitel Prora hat sich unauslöschbar in meinem Gedächtnis eingebrannt!

 

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